Beschreibung
Welche Kunstform verbindet klassische Musik und Bewegung? Bei einer Blitzumfrage auf der Straße würden sicherlich fast alle mit „Ballett“ antworten. Wie faszinierend die gar nicht so seltene Kombination von zeitgenössischem Tanz und Klassik ist, dafür will der Tanzabend Radical Classical eine Lanze brechen. Das Mittel der Wahl: sechs zeitgenössische „Klassiker“ berühmter Choreograph:innen. Der mediale Mehrwert in den Pausen zwischen dem Tanz: sechs eigens produzierte Erklärfilme, die jedes Musikstück aus einem anderen Winkel beleuchten.
Entwickelt von Eric Gauthier und dem Dramaturgen Thomas Geiger, liegt der Fokus hier teils auf den Instrumenten, teils auf den Komponisten, teils auf den ausführenden Künstler:innen. Und obwohl diese kurzen Dokus für das ganze Publikum interessant sein dürften, hatte Eric Gauthier bei der Planung dieses Programms vor allem eine spezielle Zielgruppe im Blick: Jugendliche, die normalerweise wenig mit klassischer Musik in Berührung kommen. Die Zeichen stehen gut, dass Radical Classical sie nicht nur informiert, sondern begeistert. Schließlich sind die Gauthier Dance JUNIORS nicht nur die ultimativen Sympathieträger:innen. In diesem darstellerisch wie technisch ausgesprochen anspruchsvollen Programm treten sie den Beweis an, wie radikal Klassik sein kann.
Mit ihrem Pas de deux aus Lascilo Perdere (A journey of letting go), ursprünglich 2005 kreiert für ihre eigene Company AB&A, dürfte Aszure Barton einen Rekord geknackt haben – für die längste und gewagteste Zungenkuss-Szene in einem Tanzstück. Zur hypnotischen Musik von Antonio Vivaldis Nisi Dominus – Cum Dederit bannt die neue Artist in Residence ein Paar über die gesamte Dauer des Stücks in eine physisch schier unmögliche Verschlingung. So wurde Vivaldi garantiert noch nie vertanzt!
Urknall der Tanzmoderne: Für die Ballets Russes choreographierte Nijinski 1912 sein ikonisches Tanzstück L’Après-midi d’un faune. Musikalische Vorlage war das impressionistische Meisterwerk von Claude Debussy. Inspiriert von Nijinskis bahnbrechender Choreographie und von historischen Fotografien, die ihn in seiner Paraderolle zeigen, schuf Marie Chouinard ihre eigene Version für eine Faunin, die als Schlüsselwerk auch in ihrem Œuvre gelten darf. Mit den ersten Tönen von Prélude à l’après-midi d’un faune versetzt uns das Solo in eine mythische, archaische, buchstäblich un-menschliche Welt. Wie und was träumt ein Fabelwesen? Die kanadische Tanz-Avantgardistin zeigt es uns.
Um ein Fabelwesen geht es auch bei Marco Goecke. Das Werk ist ebenfalls eng mit der Geschichte der Ballets Russes zu Beginn des 20. Jahrhunderts verknüpft. Denn diesen Pas de deux kreierte der langjährige Artist in Residence von Gauthier Dance aus Anlass des 100. Geburtstags von Igor Strawinskys Feuervogel. In Goeckes typisch fiebriger, hyperpräziser Bewegungssprache, mit flatternden Hand- und ruckhaften Kopfbewegungen, erzählt der Choreograph die Geschichte einer Annäherung zwischen Mensch und Vogelwesen.
Britten, Händel, Mozart, Schütz, Purcell, Schubert, Wagner ...: Wenige Choreograph:innen haben sich so eingehend mit klassischer Musik und speziell mit der Oper auseinandergesetzt wie Andreas Heise. Auch Frühlingsstimmen schaut unter die Oberfläche. Auf der einen Seite die überschäumende Seligkeit von Johann Strauss Sohns Walzerklassiker, der Taumel und die Schönheit der erwachenden Natur. Auf der anderen Seite der Zweifel und die Skepsis, eine marionettenhafte Szenerie mit Tänzer:innen, die sich wie ferngesteuert bewegen. Und die drängende Frage: Wo verlaufen die Bruchlinien in einer vermeintlich heilen Welt?
Wohl kaum ein Musikstück wurde so oft, so unterschiedlich und so kreativ in Tanz übersetzt wie Maurice Ravels Boléro. Auch Ohad Naharin ließ sich von dieser ikonischen Vorlage inspirieren – zu seinen eigenen Bedingungen ... Nicht nur enthält der Titel B/olero einen Schrägstrich, der Godfather des Gaga hat sich auch für ein Synthesizer-Arrrangement des japanischen Komponisten Isao Tomita entschieden. Mit seinem kraftvollen, unerbittlich synchronen Duett gelingt Naharin ein echtes Kunststück: Makellose Präzision von den beiden Tänzerinnen zu verlangen – und gleichzeitig die Komik in den wie ein Uhrwerk schnurrenden Bewegungsabläufen zu entdecken.
Eine gute Portion Humor bringt auch Orchestra of Wolves von Eric Gauthier mit. Zum ersten Satz von Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie setzt diese Miniaturkomödie augenzwinkernd den vielbeschworenen Autoritätskonflikt zwischen Dirigent gegen Orchester in Szene. In der professionellen Musikszene normalerweise ein Ringen zwischen zwei halbwegs gleichstarken Gegnern. Dumm nur, dass in diesem Stück der Dirigent ein Vogel ist und im Orchester ausschließlich Wölfe spielen ...
Für Tänzer:innen vergeht die Zeit besonders schnell. Schließlich bleiben ihnen für ihre aktive Karriere viel weniger Jahre als in praktisch allen anderen Berufen. Auf ebenso humorvolle wie eindrückliche Weise visualisiert das Choreographen-Duo Sol Léon & Paul Lightfoot in Susto diesen Wettlauf gegen die Zeit in einem allegorischen Bühnenbild: einem großen Trichter, dem ständig Sand entströmt. Die Tänzer:innen lassen sich berieseln wie unter einer Dusche, sie jagen sich und schlittern auf dem rutschigen Untergrund. Passend dazu greift das Schlussstück von Radical Classical ebenfalls den ersten Satz aus Beethovens 5. Sinfonie auf – der „Schicksalssinfonie“ ...