Meine Meinung
Wie so viele Menschen in Deutschland habe auch ich einen Kleinanzeigen-Account. Diese Plattform, auf der man Dinge verkauft oder verschenkt, die man nicht mehr braucht, ist eigentlich nichts Besonderes. Doch während die meisten mit einem einzigen Profil auskommen, habe ich zwei. Eines trägt meinen echten Namen: Derya Türkmen. Das andere heißt Klara Fall. Und während ich diesen zweiten Namen früher vielleicht als kleinen Trick abgetan hätte, weiß ich heute, dass er viel mehr ist. Er ist ein Schutz, ein Schild, ein Kompromiss, den ich mit der Realität eingehen musste.
Vor ein paar Wochen stellte ich eine Stehlampe online. Schlichte Holzbeine, ein Stoffschirm, ein bisschen skandinavische Zurückhaltung—nichts Aufregendes. Die Nachfrage war groß, und der erste, der sich meldete, war Michael. Wir handelten ein wenig, einigten uns schnell und vereinbarten ein Treffen. Als er kommen sollte, musste ich ihm allerdings mitteilen, dass er bei „Türkmen“ klingeln müsse. Ich schrieb beiläufig: „Bin halt zur Untermiete, wie das eben so ist in Berlin“, und spürte in diesem Moment dieses kleine Stechen, das jedes Mal auftaucht, wenn ich eine Erklärung erfinden muss, um meinen echten Namen zu kaschieren. Er antwortete einfach nur: „Kein Problem.“
Als er dann vor meiner Tür stand, schaute ich ihn an und fragte zögerlich: „Michael?“ Irgendetwas in mir sagte, dass dieser Mann nicht Michael hieß—so wie ich auch nicht Klara war. Ich holte die Lampe, er blieb in der Tür stehen, und noch während ich sie ihm überreichen wollte, platzte die Frage aus mir heraus: „Heißt du wirklich Michael?“ Er schüttelte den Kopf, sah mich an und sagte fast erleichtert: „Und du bist wahrscheinlich nicht Klara. Sondern Derya, richtig?“ Ich nickte. Und dann lachten wir. Erst vorsichtig, dann immer freier. Zwei Menschen, die zufällig an derselben Stelle einen Vorhang fallengelassen hatten.
Wir lachten über den Trick, den wir beide anwendeten. Aber wir lachten auch über die Traurigkeit dahinter, über die Absurdität, die in diesem Verhalten steckt. Denn wie deprimierend ist es bitte, dass wir uns hinter Namen verstecken müssen, um Dinge zu verkaufen? Dass mein echter Name, mein Familienname, mein Erbe und meine Herkunft mich auf einer simplen Plattform wie Kleinanzeigen benachteiligen? Dass eine Derya oder ein Hasan weniger Anfragen bekommen, weniger Vertrauen, weniger Kaufinteresse? Dass es vollkommen normal geworden ist, dass wir unsere Namen verstecken, weil sie uns sonst Chancen nehmen? Unter Migrant*innen wird das kaum noch hinterfragt. Es ist gängig. Ein stiller Konsens. Ein ungeschriebenes Gesetz, das jeder kennt: Nimm einen deutschen Namen, dann wirst du besser behandelt.
Und dieses Phänomen begleitet uns überall. Bei Jobbewerbungen, bei Wohnungssuchen, bei Arztterminen. Es ist der unsichtbare Rassismus, der sich nicht laut zeigt, der nicht schreit, nicht beleidigt, aber unterschwellig sortiert, filtert, ausgrenzt. Er ist wie ein Algorithmus im Kopf anderer—einer, der entscheidet, ob du eine Chance bekommst oder nicht, noch bevor du den Raum überhaupt betreten hast. Wir lachen darüber, weil es fast schon wie ein makabrer Witz klingt. Aber wir lachen auch, weil die Alternative das Eingeständnis wäre, wie tief dieser Rassismus in den Alltag eingesickert ist. Wie normal er geworden ist. Wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, uns zu tarnen.
Michael und ich standen noch immer voreinander. Für einen Moment waren wir keine Verkäufer und Käufer mehr, sondern zwei Menschen, die dieselbe Erfahrung teilen—wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen. Ich lud ihn auf einen schwarzen Tee ein. Er freute sich. Und während ich die Tür weiter öffnete, dachte ich daran, wie viel Mut es eigentlich kostet, einfach nur den eigenen Namen zu tragen, ohne etwas zu verstecken, ohne sich zu verstellen. Vielleicht war dieser Tee nichts weiter als ein kurzer Moment der Verbundenheit. Vielleicht aber auch ein kleiner Beweis dafür, dass manchmal zwei Fremde genau verstehen, was es bedeutet, sich selbst unsichtbar machen zu müssen—und wie befreiend es sein kann, wenn man es für einen Augenblick nicht tun muss.
Derya Türkmen lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin bei der taz, die tageszeitung. Am liebsten schreibt sie über gesellschaftliche Themen und beschäftigt sich mit der türkischen Diaspora — unter anderem einmal im Monat im Programmheft des Theaterhauses. DIe Januar-Ausgabe mit diesem Text erscheint am 12. Dezember.
